Wenn aus einem Witz systematisches Mobbing wird…

„Du bist so überflüssig wie ein Sandkasten in der Sahara“, „Geh zurück in deine Ecke“, „In unserer Gruppe braucht dich keiner“ und „Gibt’s dich auch in schön?“, sind vergleichsweise noch harmlose, aber beleidigende Sätze, die junge Mobbing-Opfer nicht nur häufig, sondern teilweise sogar tagtäglich in der Schule hören müssen. Leider ist es damit meistens nicht getan, denn einige Schülerinnen und Schüler werden nicht nur verbal beleidigt und gedemütigt, sondern auch aus der Klassengemeinschaft ausgeschlossen und zum Teil auch körperlich angegangen. Für die Täter ist das ein lustiger Spaß, doch für die Opfer ist das Mobbing eine unvorstellbare seelische Verletzung, die auch nach Jahren noch gravierende Folgen haben kann. Doch wie lässt sich Mobbing eigentlich definieren, wie erleben es die Täter und Opfer, welche Folgen hat das Mobbing und wie stehen Lehrerinnen und Lehrer zu diesem Thema?

Die Meinung eines Profis…

Wir haben mit Ingo Hodum gesprochen, der uns als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut die zwei Arten von Mobbing erklärt und dessen einzelne Phasen aufgezeigt hat. Es lässt sich feststellen, dass Mobbing kein normaler Streit zwischen zwei oder mehr Schüler/innen ist, sondern es sich hierbei um eine systematische Ausgrenzung handelt, die über einen längeren Zeitraum vonstatten geht. Man unterscheidet zwischen direktem, also dem verbalen und physischen Mobbing, und indirektem Mobbing, das sich durch Ausgrenzung und Beschädigung des Rufes durch die Streuung von Gerüchten kennzeichnet. Insgesamt gibt es drei Phasen des Mobbingprozesses:

Explorationsstadiumkleinere Boshaftigkeiten gegen unterschiedliche Kinder
Finden eines geeigneten Opfers
KonsolidierungsstadiumBeginn systematischer Attacken
Eingreifen durch Lehrkräfte und Mitschüler in dieser Stufe besonders wichtig, damit sich das Verhalten nicht etabliert
ManifestationsstadiumManifestierung der Opferrolle
Isolation aus der Klassengemeinschaft

Die Schwäche des Täters macht das Opfer zum Opfer

Die hauptsächliche Ursache des Mobbings an Schulen ist insbesondere das geringe Selbstwertgefühl des Mobbers. Täter fühlen sich gestärkt, wenn das Mobbingopfer keinen Widerstand leistet. Ebenfalls mögliche Ursachen sind Wut, Langeweile, Unzufriedenheit, Neid und eine geringe Konfliktfähigkeit. Ein Mobbingopfer stellt eine optimale Zielscheibe für die Auswirkungen der emotionalen Ausbrüche der Täter dar. Oftmals merkt ein Mobbingopfer nicht, dass es zur Zielscheibe geworden ist. Deutlich macht sich das meistens erst, wenn es bereits zu spät ist.

Wenn der Pfeil ins Schwarze trifft…

Oft suchen sich die Täter diejenigen aus einer Gruppe aus, die körperlich schwach oder ohnehin bereits Außenseiter sind. Opfer nehmen ihre Rolle an, weil sie die Beleidigungen und gezielten Anfeindungen als Witz verstehen oder es für normal befinden. Erst im Laufe der Zeit wird ihnen und ihrem Umfeld bewusst, dass der Scherz kein Scherz mehr ist.

Woran man erkennen kann, dass man unter Mobbing leidet:

Typische Anzeichen können zunehmende Verschlossenheit und die daraus resultierende Isolation einer betroffenen Person sein, aber auch Niedergeschlagenheit, Passivität und Lernunlust. Belastende Folgen können Depressionen, Gliederschmerzen und Selbstverletzungen sein. In der Schule äußert sich dies auch durch schlechter werdende Noten, im sozialen Umfeld durch langanhaltend schlechte Laune und ein vermindertes Selbstbewusstsein.  Es bedarf nicht erst bei Suizidgedanken professioneller Hilfe.

Gerade die Nummer gegen Kummer ist eine vertrauenswürdige und zuverlässige Anlaufstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern. 2019 gab es rund 120 000 Beratungen am Telefon oder per Mail. Gerade Jugendliche im Alter von 12 bis 17 Jahren suchen Rat beim Kinder- und Jugendtelefon. Dabei spielen nicht nur familiäre und soziale Probleme eine Rolle, sondern auch die Zahl der Gespräche über den Schulalltag steigt stetig. Von insgesamt 20 000 telefonischen Begegnungen zu diesem Thema sollte in über der Hälfte eine Lösung für Probleme mit Spott, Ausgrenzung, Mobbing und Streit mit Mitschülerinnen und Mitschülern gefunden werden.

…und Beispiele aus dem Alltag

Sophie aus der Siebten wird wegen ihrer leicht pummeligen Figur schikaniert. Nico aus der Zehnten sitzt jeden Morgen ganz vorne im Schulbus, möglichst nah am Busfahrer, damit er von seinen Mitschülern nicht angegriffen wird. Zehra aus der Q12 wird über Instagram beleidigt, da sie sich am Samstagabend auf das Lernen für ihr Abitur konzentriert und nicht mit den anderen auf Hauspartys geht. Es ist egal, ob online oder offline, Ausgrenzung kann psychisch belasten, oft bleiben auch Langzeitfolgen. Daher ist es sinnvoll, sich professionelle Hilfe zu suchen, wenn man Opfer von Mobbing geworden ist. Für Eltern und Lehrkräfte ist es besonders wichtig, dass sie bei einem Verdacht nicht schweigen.

Am Gymnasium Ottobrunn sorgen nicht nur die Schulpsychologen für ein gutes Schulklima, auch die Lehrkräfte geben ihr Bestes, um die Harmonie untereinander aufrecht zu erhalten. Trotzdem gibt es immer wieder Fälle, in denen man die Ausgrenzung eines Schülers oder einer Schülerin nicht mitbekommt. Wir haben bei jemandem nachgehakt, der das Thema nicht nur ernst nimmt, sondern sofort helfen würde.

Wenn Schule zur Qual wird…

Jette – die anonym bleiben möchte, weshalb wir einen erfundenen Namen verwenden – hat an ihrer alten Schule negative Erfahrungen mit Ausgrenzung und Mobbing machen müssen. In der zehnten Klasse war für sie eine Grenze erreicht und sie wechselte auf unsere Schule. Zwar ist ihr hier nichts mehr widerfahren, allerdings ist sie trotzdem davon überzeugt, dass Ausgrenzung an allen und dementsprechend auch an unserer Schule stattfindet.

Als Jette bereits Opfer war, ließen sich ihre Eltern scheiden. Für sie brach nicht nur die familiäre, sondern nach und nach mit immer schlimmer werdenden körperlichen und verbalen Angriffen die schulische Welt zusammen. Aus purer Verzweiflung und schlechten Gedanken über sich selbst war sie kurz davor, sich selbst zu verletzen.

Jette, wir bewundern es sehr, dass du die Kraft hast, mit uns über deine Geschichte zu sprechen. Hattest du jemals das Gefühl von Akzeptanz oder Unterstützung?

„In der fünften Klasse hatte ich zwei Freundinnen, die mich zwar nicht aktiv unterstützt haben oder sich an meine Seite gestellt haben, aber sie haben die Zeit mit mir verbracht, wofür ich sehr dankbar war. In der Sechsten war ich aber ziemlich alleine und ich hatte nie jemanden, der sich auf meine Seite gestellt und mich aktiv unterstützt hat. Ich verstehe es aber, da die Situation sehr schwierig ist und man großen Mut haben muss, um sich gegen die Mobber auszusprechen. Nach der Siebten wurde es immer besser. Von Mobbing hat es sich zu Hänseleien entwickelt, die etwas erträglicher waren. Insgesamt kann ich sagen, dass ich mit der damaligen Sechsten besser abgeschlossen habe, als mit meiner fünften Klasse. Aber nach der Zehnten wechselte ich dann aufs GO.“

Kannst du dir erklären, warum du zum Opfer geworden bist?

„In der fünften Klasse war es wahrscheinlich so, da meine damalige Freundin Beliebtheit erringen wollte und deshalb mit dem Mobbing gegen mich anfing. Dazu kam meine Naivität, die meine Angriffsfläche darstellte. In der sechsten Klasse waren vermutlich meine kurzen Haare der Auslöser für das Mobbing. Ich fing an, auf böse Sätze anders zu reagieren und ich habe versucht, dumme Kommentare zurückzugeben, ohne zu wissen, wie das eigentlich richtig geht.“

Jette weiß nicht, was dazu geführt hat, dass sie zum Opfer wurde. Im Nachhinein sei das natürlich auch schwer zu beurteilen. Sie selbst hätte die Vorgänge gegen sie gar nicht wirklich verstanden. Sie habe das Problem erst erkannt, als sie ihren Eltern von Hassnachrichten und Drohungen erzählte. Glücklicherweise standen diese immer auf ihrer Seite und unterstützten sie. Jette würde sich wünschen, dass in den Schulen schon viel früher durchgegriffen wird. Anti-Mobbing-Projekte, aber auch Tutoren können dazu beitragen, dass die Fälle in den Klassen weniger werden oder gar nicht erst auftreten. Petzen, so sagt sie, sei hier erlaubt, da es einem helfe!

Was würdest du Mobbing-Opfern empfehlen?

„Natürlich ist es wichtig, dass man zuallererst zu sich selbst steht. Man ist zu keinem Zeitpunkt an der Situation schuld. Dann sollte man so schnell es geht eine Vertrauensperson aufsuchen und die Situation nicht alleine durchstehen! Auf schattige Tage folgen sonnige Zeiten, auch wenn die erst später kommen können.“

Würdest du dich für ein Mobbing-Opfer in deinem Kurs einsetzen?

„Das ist eine schwierige Frage. Es erfordert viel Mut und ich bin mir nicht sicher, ob ich das könnte. Natürlich würde ich mich nicht gegen das Mobbing-Opfer stellen, sondern ich würde mit ihr oder ihm mehr reden und Zeit verbringen und ich würde mich eventuell an Lehrer wenden, aber direkt gegen den Mobber stellen könnte ich mich nicht.“

Das ist absolut verständlich! Trotzdem sollte jedem bewusst sein, dass bereits Kleinigkeiten den Betroffenen helfen können. Jette, vielen Dank für deine Zeit und deine Geschichte! 

Herr Gerzer, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen. Haben Sie selbst bereits Erfahrungen mit Ausgrenzung gemacht, egal, ob zu Ihrer eigenen Schulzeit oder in Ihrer Zeit als Bio- und Chemielehrer?

„In meiner Schulzeit gab es zwei Mädchen, die von der Klasse immer wieder geärgert und gehänselt wurden. Die haben deshalb letztendlich auch die Schule verlassen. Ich selbst habe damals nichts unternommen. Als Lehrer bekomme ich natürlich immer wieder Fälle mit, diese allerdings nur am Rande.“

Von welchen Fällen sprechen Sie?

„Naja, teilweise sind die total unnötig. Gerade in der Mittelstufe verhalten sich einige Jugendliche völlig falsch und grenzen andere aus, weil die ein bestimmtes Computerspiel nicht zocken dürfen.“

Wie gehen Sie damit um, wenn Sie Mobbing in Ihrer Schule erleben?

„Ich habe die Klassen einfach zu selten in der Woche. Aber natürlich spricht man im Kollegium und ich würde auch jederzeit eingreifen, wenn man mich darum bittet oder es zu viel wird.“

Glauben Sie, dass Mobbing ein immer größeres Problem wird?

„Mobbing ist nicht selten, aber ich glaube nicht, dass das Problem größer wird. Dafür wird es heftiger. Gerade über die sozialen Medien haben Mobber viel mehr Möglichkeiten.“

Ist Mobbing vom Alter abhängig?

„Ich habe das subjektive Gefühl, dass Mobbing gerade in der Pubertät sehr oft vorkommt. Der Körper verändert sich, die Einstellung gegenüber anderen und allgemein weiß man nicht mehr so richtig, was man tut.“

Wie schätzen Sie dieses sehr große Thema an unserer Schule ein? Haben Sie Verbesserungsvorschläge?

„Es läuft gut an unserer Schule. Wir haben ein breit aufgestelltes Team mit Sozialarbeitern und Schulpsychologen und allgemein haben wir hier ein angenehmes Schulklima. Ich habe den Eindruck, dass sich Betroffene jederzeit Hilfe holen können. Gerade in der aktuellen Zeit sehe ich hier allerdings bestimmte Grenzen. Wir haben keinen direkten Kontakt mehr zu den Schülern. Man verliert Fälle aus den Augen und bekommt Abläufe aus den Klassengemeinschaften nicht mehr mit. Deshalb würde ich es für wichtig empfinden, wenn man eine Art Online-Beratung anbietet. Außerdem glaube ich, dass es sinnvoll wäre, wenn junge Lehrer am Anfang mit Sozialpädagogen zusammenarbeiten und ihnen die Sorgen der Schüler aufgezeigt werden.“

Wo hört für Sie die Blödelei auf? Ab wann ist eine Grenze erreicht?

„Das ist natürlich die Frage aller Fragen. Jeder Mensch hat seine eigenen Grenzen. Wenn man sich nach einer blöden Bemerkung beleidigt fühlt, ist das völlig verständlich, obwohl andere hier vielleicht noch lachen. Trotzdem darf niemand beurteilen, wie sich eine Person verhalten oder fühlen soll. Natürlich gibt es Obergrenzen. Das sind für mich ganz klar körperliche Gewalt und jegliche Art von Diskriminierung oder Rassismus.“

Herr Gerzer hat mit seiner letzten Antwort ein sehr wichtiges Thema angesprochen. Bei der sogenannten Opferbeschuldigung, auch Victim Blaming genannt, bewerten Außenstehende, wie sich ein Opfer fühlen darf. Dabei wird auch die Frage gestellt, ob sich das Opfer so bezeichnen darf oder gar selbst für seine Situation verantwortlich ist. Viele Menschen erlauben es sich, die Lage einer Person zu beurteilen, obwohl sie nicht betroffen sind. Sie beurteilen die Reaktion des Opfers und tragen damit oft dazu bei, dass betroffene Personen ihre Empfindungen und sich selbst infrage stellen.

Sollte man also mitbekommen, dass ein Mitschüler oder eine Mitschülerin unter dem Verhalten Anderer leidet, hilft man den Betroffenen nicht, wenn man sie mit der Frage „Meinst du nicht, dass du mit deinem Verhalten solche Aktionen provozierst?“ konfrontiert. Das führt nur zu einer erneuten Demütigung. Hilfreich wäre es aber zu sagen: „Ich verstehe völlig, dass dich das total ärgert.“ Damit unterstützt man das Opfer und im Gesprächsverlauf kann sich herausstellen, wie man mit seinem Einsatz an der Situation des oder der Betroffenen etwas ändern könnte.

Über diesen Weg erneut herzlichen Dank an Herrn Gerzer für das Gespräch!

Sobald man sich in der Schule ausgegrenzt fühlt, sollte man sich schnell und ohne Sorge jemandem anvertrauen. Das kann der Lieblingslehrer, ein Schulpsychologe oder auch jemand aus dem familiären Umfeld sein. Wichtig ist, dass man sich bald professionelle Hilfe sucht. Im Folgenden sind einige Anlaufstellen aufgelistet, an die du dich ebenfalls und ohne Scham wenden kannst. Auch Sie als Eltern und Lehrkräfte können sich bei einem Verdacht bei einigen Beratungsstellen informieren und so wichtige Schritte einleiten. Man sollte niemals Angst haben, das Richtige zu tun!

Kinder- und Jugendtelefon

116 111; montags bis samstags von 14 – 20 Uhr

(Online-Beratung über Mail ist ebenfalls möglich! www.nummergegenkummer.de

Antidiskriminierungsstelle des Bundes

Kontaktformular über https://www.antidiskriminierungsstelle.de/DE/Service/Kontakt/kontakt_node.html 

Elterntelefon

 0800 oder 111 0 550; montags bis freitags von 9 bis 17 Uhr, dienstags und donnerstags bis 19 Uhr

(Online-Beratung über Mail ebenfalls nötig! www.nummergegenkummer.de)

Telefonseelsorge

0800 / 111 0 111 oder 0800 / 111 0 222 oder 116 123

(per Mail und Chat unter online.telefonseelsorge.de

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Author: Simon Bigagli und Pauline Bodensteiner