Dissoziative Störungen – Die Schutzmechanismen unserer Psyche

Dass wir alle körperliche Grenzen haben, wissen wir, doch was ist eigentlich mit unserer Psyche? Hat unsere Psyche, die nie eine Pause macht, die sogar, wenn wir schlafen, noch aktiv ist, Grenzen? Und wenn ja, was passiert, wenn diese Grenzen erreicht oder überschritten werden?

Jeder kennt es: Du langst an eine heiße Tasse und ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken, ziehst du deine Hand blitzschnell und ruckartig wieder zurück. Diese automatische Reaktion deines Körpers auf einen Schmerzreiz ist ein Beispiel für einen sogenannten Schutzreflex. Diese angeborenen Reflexe bewahren uns davor, uns versehentlich selbst zu verletzen, sie müssen weder erlernt werden noch kann man sie steuern. Sie passieren einfach, ohne dass unser Gehirn Einfluss darauf nimmt.
Wenn nun also unser Körper angeborene Schutzreflexe hat, über die wir noch nicht einmal nachdenken müssen, hat unsere Psyche dann auch Schutzmechanismen, um uns zu schützen, wenn wir an unsere psychischen Grenzen stoßen?

Wir neigen dazu peinliche Erlebnisse zu verdrängen

Stellt euch vor, ihr seid auf dem Geburtstag einer Freundin/eines Freundes eingeladen und ihr feiert nicht bei ihm/ihr Zuhause, sondern irgendwo anders, sodass ihr mit dem Auto dort hinfahren müsst. Auf der Party habt ihr es dann mit dem Süßen vielleicht etwas übertrieben und auf der Rückfahrt mit dem Auto ist euch kotzübel. Irgendwann könnt ihr euren Brechreiz nicht mehr zurückhalten und übergebt euch direkt in den Schoß der Person, die neben euch im Auto sitzt. Im Nachhinein versucht ihr natürlich, diese äußerst peinliche Situation so schnell wie möglich zu vergessen, ihr verdrängt sie und schiebt sie aus euren aktiven Gedanken, damit ihr nicht ständig mit dem Schamgefühl konfrontiert seid, das mit dieser Erinnerung verbunden ist.

Die Antwort auf die Frage, ob unsere Psyche Schutzmechanismen hat, lautet also ja und das Spektrum der psychischen Abwehr-, beziehungsweise Schutzmechanismen ist weit gespannt. Es reicht vom täglichen Verdrängen bis hin zu schweren psychischen Erkrankungen, die nur mit Hilfe eines geschulten Therapeuten bewältigt werden können.
Die Fähigkeit, belastende, schmerzliche und unangenehme Erinnerungen oder Gedanken aus dem Bewusstsein zu verbannen und ins Unbewusste abzuschieben ist ein Abwehrmechanismus, den Psychologen als Verdrängen bezeichnen. Wir alle verdrängen täglich Dinge und das aus gutem Grund, denn würden wir jeden Tag mit unseren belastenden und unangenehmen Gedanken und Gefühlen konfrontiert werden, dann wären wir wohl alle depressiv. Also besser einfach nicht mehr daran denken und es ins Unterbewusstsein schieben.

So weit so gut, doch auch in diesem Zusammenhang gilt das Sprichwort „Die Dosis macht das Gift“. Zu viel Verdrängen ist nicht gesund. Das zeigt sich besonders an Personen, die in Extremsituationen wie zum Beispiel Krieg, Misshandlung, Folter oder massiver Todesangst waren. Wobei das natürlich schon die sehr extremen Extremsituationen sind. Als Extremsituationen zählen aber auch Dinge, die uns allen passieren könnten, zum Beispiel in einen Autounfall verwickelt zu sein.

Auch Autounfälle können psychische Schutzmechanismen auslösen

Personen, die an sehr schweren Autounfällen beteiligt waren, erinnern sich später oftmals nicht mehr an den Unfallhergang und an das, was in der Zeit bis zum Eintreffen der Rettungskräfte passiert ist. Solche traumatischen Ereignisse können die Psyche so sehr überfordern, dass sie jegliche Erinnerung an diese Geschehnisse verweigert, um sich vor dem seelischen Schmerz, den das Erinnern hervorrufen würde, zu schützen. Um das Erinnern nun also zu verhindern, spaltet die Psyche die Erinnerung ab und macht sie somit für das Bewusstsein und das Unterbewusstsein unzugänglich. Dieses Abspalten wird in der Fachsprache Dissoziation genannt. Menschen, die abgespaltene Erinnerungen haben, leiden an dissoziativen Störungen. Im Falle des Beispiels mit dem Autounfall spricht man von einer dissoziativen Amnesie. Eine solche Amnesie kann dauerhaft sein oder mit der Zeit wieder verschwinden. Es gibt aber natürlich noch weitaus schwerwiegendere dissoziative Störungen.

Nadine [Name von der Redaktion geändert] ist eine offene und nette Frau, die von außen so wirkt, als hätte sie ihr Leben im Griff. Doch in Wirklichkeit ist genau das eigentlich nicht der Fall, denn Nadine hat eine dissoziative Identitätsstörung, kurz DIS, besser bekannt unter dem veralteten Namen „multiple Persönlichkeitsstörung“. Die DIS ist die schwerste Form der dissoziativen Störungen. Sie äußert sich dadurch, dass in einer Person zwei oder mehr verschiedene Persönlichkeiten existieren. Diese Identitäten, auch „Innenpersonen“ oder „Alters“ genannt, übernehmen zu verschiedenen Zeitpunkten im Leben der betroffenen Person die Kontrolle über das Handeln und Denken. Das erschwert das Alltagsleben für die Betroffenen erheblich.

Nadine erzählt, dass es für sie besonders schwierig ist, sich Dinge zu merken, zum Beispiel, ob sie sich schon die Zähne geputzt hat etc., und dass sie sich extrem viele externe Hilfen in Form von Zetteln und Listen zum Abhaken schaffen muss, da sie sonst einfach Dinge mehrmals hintereinander macht, ohne es zu bemerken, weil in der Zwischenzeit eine andere Persönlichkeit die Kontrolle hatte, wodurch bei Nadine eine Gedächtnislücke entsteht.
Meist unterscheiden sich die einzelnen Persönlichkeiten stark. Jeder Anteil hat sein eigenes Gedächtnis, individuelle Vorlieben und Verhaltensmuster. Sie haben auch unterschiedliche Alter, Geschlechter und physiologische Eigenschaften wie Handschrift, Rechts- oder Linkshändigkeit. In manchen Fällen haben sie sogar unterschiedlich gutes Sehvermögen. Eine Teilpersönlichkeit kann also kurzsichtig sein und ein Brille benötigen, während eine andere ein normales Sehvermögen hat.
Diese vielen individuellen Personen, die sich einen Körper quasi teilen, machen es natürlich auch unfassbar schwer, zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen und vor allem, sie aufrecht zu erhalten.

Wie und wann entsteht jetzt aber eine dissoziative Identitätsstörung?

Eine DIS entsteht in den meisten Fällen dadurch, dass ein Kind bereits vor seinem fünften Lebensjahr extrem traumatischen Situationen ausgesetzt ist. Das können massive körperliche Misshandlung, sexueller Missbrauch und/oder extreme Vernachlässigung bis hin zur Verwahrlosung sein. Als Bewältigungs- und Schutzstrategie, um die körperlichen und psychischen Qualen überhaupt ertragen zu können und im Alltag weiterhin handlungsfähig zu bleiben, spaltet sich die Psyche in mehrere Anteile auf, sie dissoziiert, und die Last der traumatischen Erfahrung wird auf mehrere „innere“ Schultern verteilt. Um eben im Alltag weiterhin zu funktionieren, begibt sich eine der Persönlichkeiten (in der Regel die, die im Alltag aktiv ist) gedanklich an einen sicheren Ort, wo sie nichts von den traumatischen Erlebnissen mitbekommt. Ein anderer Anteil, der zu diesem Zeitpunkt die Kontrolle über den Körper hat, nimmt die Gewalt und die Schmerzen aber dennoch wahr. Jede Identität übernimmt also bestimmte Funktionen in bestimmten Situationen und kann in ähnlichen Situationen wieder zum Vorschein kommen. So entstehen zum Beispiel Helferpersönlichkeiten, die den Körper beschützen, indem sie Situationen vermeiden, in denen Missbrauch stattfinden könnte. Die Identitäten, die während der Missbrauchssituation die Kontrolle haben, können zu täteridentifizierten Persönlichkeiten werden, das heißt, sie passen sich an die Täter an, denn wenn man das, was einem passiert, nicht mehr schlimm oder sogar toll findet, dann ist es dadurch nicht traumatisch und die Psyche kann besser damit umgehen. Des Weiteren entstehen beispielweise auch noch Alltagsidentitäten, die, wie bereits erwähnt, normalerweise eine totale Amnesie gegenüber den traumatischen Erfahrungen haben und dafür sorgen, dass Betroffene mit den alltäglichen Anforderungen in der Schule oder am Arbeitsplatz zurechtkommen und dabei normal aussehen und wirken.
Während die Alltagspersönlichkeiten also eine Amnesie gegenüber allem haben, was außerhalb der Zeit passiert, in der sie die Kontrolle über den Körper haben, wissen Anteile, die hauptsächlich im Innen bleiben, häufig, dass sie Teil eines Systems sind. Betroffene haben also, solange das System funktioniert, meistens keine Ahnung, dass sie an einer DIS leiden.

Eine dissoziative Identitätsstörung muss von einem Psychologen diagnostiziert werden


Auch Nadine hatte zunächst keine Ahnung, dass sie ein dissoziative Identitätsstörung hat, bis ihr System zusammengebrochen ist und sie sich selbst in eine Klinik eingewiesen hat, da sie dachte, sie verliert den Verstand. Der Ärztin in der Klinik war ziemlich schnell klar, dass sie eine Traumafolgestörung hat, sie selbst konnte sich aber gar nicht vorstellen, dass sie traumatisiert ist. „Ich war komplett davon überzeugt, dass ich der stabilste Mensch des Planeten bin“, sagt sie selbst. Kurz danach folgte dann die Vermutung, sie habe eine strukturelle dissoziative Störung. Nachdem sie in der Klinik zum ersten Mal von struktureller Dissoziation gehört hatte und anfing, sich näher damit zu beschäftigen, sich über die Symptome informierte, in denen sich Dissoziation äußert, fielen ihr immer mehr Indizien auf, die ihr davor nie bewusst waren, obwohl sie die Störung schon ihr gesamtes Leben lang hat. Da Nadine eine Alltagspersönlichkeit ist und daher Amnesie gegenüber den traumatischen Erlebnissen hat, fing sie an, in ihrer Vergangenheit zu stöbern. Dabei wurde ihr zum Beispiel klar, dass es nicht normal ist, dass sie sich nicht an die Zeit vor ihrem elften Lebensjahr erinnern kann. Dann kamen auch noch komische Umstände in ihrer Familie ans Licht, die sie sich damals nicht erklären konnte, da ihre Mutter darin verwickelt ist, diese aber auch ein System ist und sich daher ebenfalls an nichts erinnern kann und sich auch nicht weiter damit befassen möchte. Diese Entscheidung ihrer Mutter musste sie damals akzeptieren und heute ist sie der Meinung, dass es wohl gute Gründe gibt, dass sie nichts weiß und dass es vermutlich besser so ist.

Kann man ein dissoziative Identitätsstörung heilen?

Nein, kann man nicht. Man kann die Spaltung der Persönlichkeit nicht rückgängig machen. Bei der Therapie einer DIS geht es darum, dass der Patient im Alltag klar kommt, was wiederum bedeutet, die Kommunikation der Persönlichkeiten untereinander zu verbessern. Dieser Prozess ist sehr langwierig, wie lange er genau dauert, kann man nicht wirklich sagen, da es sehr vom Betroffenen abhängt.
Manche Quellen geben als Therapieziel die Integration der Persönlichkeiten zu einer Gesamtpersönlichkeit an. Dies ist allerdings vollkommen veraltet und würde auch niemals funktionieren, da sich erstens die einzelnen Persönlichkeiten bedroht fühlen könnten, da man praktisch vorhat, sie auszulöschen, und dann Amok laufen würden. Zweitens hat das Gehirn der Betroffenen im Kindesalter gelernt, auf Stress mit Spaltung zu reagieren, was bedeutet, dass die Person, sobald  sie Stress ausgesetzt ist, wieder dissoziieren wird.

Psychologische Schutzmechanismen sorgen also dafür, dass wir in belastenden Situationen weiterhin handlungsfähig bleiben. Doch von Zeit zu Zeit sollten wir alle uns mit dem, was wir verdrängen, beschäftigen, denn es kann eben auch krank machen, Belastendes unbewältigt anzuhäufen. Seelisch gesund scheint nur die richtige Balance zwischen Erinnern und Vergessen,  zwischen Loslassen und Festhalten zu sein.

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Author: Annabel Boehner