Wie man die scheinbar unüberwindbare Grenze überwindet

Lee Hyeon-seo bei ihrem TEDx Talk 2013

Heute heißt sie Lee Hyeon-seo1 , aber das war nicht immer so. Bei ihrer Geburt wird sie von ihren Eltern Kim Ji-hae genannt, doch als sich ihre Mutter scheiden lässt, ändert sie auch den Namen ihrer Tochter, um sich vor Verachtung zu schützen. Von dort an heißt sie Park Min-young und führt ein ganz normales Leben, wenn da nicht diese klitzekleine Kleinigkeit wäre: sie lebt in Nordkorea. Der damalige Führer Nordkoreas heißt Kim Jong-il und ist der Sohn von Kim Il-sung und seiner Frau Kim Jong-suk. Eine Exkursion zu der Hütte, in der der große Führer geboren wurde, steht selbstverständlich auf dem Lehrplan, danach werden Bilder dieser Hütte gemalt mit dem Heiligen Berg im Hintergrund und dem neuen Stern am Himmel. Der Geburtstag des Führers, der 16. Februar, wird genauso verehrt wie er selbst und ist Tag des Hellen Sterns.

Die Propaganda kennt keine Grenzen

Pro|pa|gan|da /Propagánda/ (Substantiv, feminin [die])

systematische Verbreitung politischer, weltanschaulicher o. ä. Ideen und Meinungen mit dem Ziel, das allgemeine Bewusstsein in bestimmter Weise zu beeinflussen

Quelle: Duden

Alles, was in der Schule passiert, ist Propaganda. Selbst die Spielzeuge sind Mittel, um Ideologien zu vermitteln: mit kleinen Zügen wird den Kindern beigebracht, dass sie eines Tages mit diesen nach Südkorea fahren werden, um die dort hungernden Kinder zu retten. Die Lehrer*innen erzählen den Schüler*innen, dass die Yankees (US-Amerikaner) die Kinder dort misshandeln würden, als Zielscheiben nutzen würden, um ihre Schießübungen auszuführen, und sie im Dreck nach Essbarem suchen lassen würden. Den Nordkoreaner*innen würde es hingegen prächtig gehen. Kein Wunder, sie leben ja im besten Land der ganzen Welt und sind alle Kinder des Führers. Die Kinder in Südkorea hungern aber keineswegs, und auch alles andere, was den Schülern so erzählt wird, ist völliger Humbug. Doch all diese Geschehnisse, die überall auf der Welt hinterfragt werden würden, werden in Nordkorea einfach hingenommen. Klar, man kennt es ja nicht anders. Denn obwohl Nordkorea offiziell „Demokratische Volksrepublik Korea“ heißt, ist es alles andere als demokratisch und die Grenzen sind dicht. Anders als die allgemeine Vermutung ist, bekommen die Nordkoreaner*innen sehr wohl etwas von der Außenwelt mit, jedoch nur das, was die Propaganda fördert, wie zum Beispiel den Skandal rund um Snowden, da dieser die Yankees als schlecht darstellt und die Verfeindung der beiden Parteien unterstützt. Auch das Verfolgen der deutschen Bundesliga ist wohl möglich und auch politische Nachrichten bekommt man immer sonntags. Hierbei ist aber wichtig zu wissen, dass diese Nachrichten zuvor sorgfältig ausgewählt werden und die Berichterstattung daher nicht unabhängig ist oder das ganze Spektrum der Nachrichten umfasst. Des Weiteren bietet Nordkoreas Fernsehangebot spärliche drei Kanäle. Social Media gibt es nicht und auch E-Mails werden in Nordkorea nicht als Kommunikationsmittel verwendet. Dies gewährleistet eine immense Einschränkung des Kontakts zur Außenwelt, da heutzutage viele Informationen über Social Media verbreitet werden. Obwohl Smartphones genutzt werden, kann man sich fragen, wie das funktionieren soll, wenn das Mobilfunknetz nur in einem Umkreis von 3km um Pjöngjang, die Hauptstadt Nordkoreas, funktioniert. Man könnte sagen, die Menschen glauben, einen Einblick in die Außenwelt zu haben, während sie in Wirklichkeit nur den Ausschnitt sehen, den die Regierung zulässt.

Wir erfanden eigene Tanzschritte, denn wir hatten nicht die geringste Ahnung, wie man zu Popmusik tanzte. Wir wussten, dass wir die Musik des Erzfeindes eigentlich nicht genießen durften, doch uns war nicht klar, wie ernst unser Vergehen war, bis in Hyesan bekannt wurde, dass einige einheimische Frauen ins Gefangenenlager geschickt worden waren, weil sie zu südkoreanischer Popmusik gefeiert hatten.

Hyeonseo Lee
Top Lieder der Künstlerinnen, die Min-young heimlich in ihrem Zimmer hört

Ärger im Paradies

 Als Min-young sieben Jahre alt ist, sieht sie das erste Mal, wie ein Mann, offenbar ein Fabrikarbeiter, auf offener Straße hingerichtet wird. Und dies ist kein Einzelfall.

1994 stirbt wie aus dem Nichts Kim Il-sung. Die Bevölkerung ist am Boden zerstört. Wie kann der Führer, Gott höchstpersönlich, sterben? Es ist schlicht unmöglich. Dieser Mann, der Vater des Landes, wird so vergöttlicht, dass er für unsterblich gehalten wird.

Als Min-young 15 Jahre alt ist, stirbt ihr Stiefvater und somit der Ernährer der Familie. Er war es, der sie dazu gebracht hat, Chinesisch zu lernen und obwohl sie nicht sonderlich begeistert war, würde sich dies später als große Hilfe erweisen.

Sein Tod hätte ein großes Problem für sie werden können, denn 1996, Min-young ist gerade 16 geworden, bricht eine schreckliche Hungerperiode aus. Glücklicherweise ist ihre Mutter in einem hohen songbun und hat ein Talent für Bestechung. Der songbun ist ein Instrument des nordkoreanischen Staates, die Bevölkerung zu kontrollieren. Es handelt sich um eine Einteilung, ähnlich dem Kastensystem in Indien. Absteigen ist einfach, aufsteigen sehr schwierig. Die Menschen verhungern auf offener Straße und der illegale Tauschhandel steigt unermesslich in die Höhe.

Min-young lebt zu dieser Zeit mit ihrem Bruder Min-ho und ihrer Mutter in einem Dorf namens Hyesan. Dieses Dorf grenzt an China und wird nur durch einen schmalen, hüfttiefen Fluss getrennt. Ihr Bruder war schon oft auf der anderen Seite, um mit den chinesischen Kindern zu spielen, und auch ihre Mutter hat Handelspartner auf der anderen Seite, um ihre Bestechungsmittel zu besorgen.

Tagesausflug mit Hindernissen

Im Winter 1997, Min-young ist kurz davor, achtzehn zu werden, entschließt sie sich, nach China zu gehen und ihre entfernten Verwandten zu besuchen. Dies ist natürlich höchst illegal, weshalb sie es tut, solange sie noch siebzehn ist. Ab achtzehn gilt man als „strafmündig“ und wird bei einem Fluchtversuch mit hohen Strafen belegt. Ihr Ausflug wird durch den zugefrorenen Fluss und ihre Freundschaft mit dem Grenzwächter erleichtert. Und so überquert sie, obwohl ihre Mutter es ihr ausdrücklich verboten hat, die Grenze. Der Plan ist es, drei Tage später zurückzukehren.

Auf der anderen Seite angekommen, klopft sie an die Tür einer Familie, mit der ihre Mutter Handel treibt. Diese nimmt sie freudig auf und der Mann erklärt sich bereit, sie am nächsten Morgen zu ihren Verwandten zu fahren. Doch um nicht aufzufallen, braucht sie einen Decknamen. Die bowibu, eine Art Geheimpolizei Nordkoreas, verfolgte auch in China Flüchtlinge. Und so kam ihr dritter Name zustande: Chae Mi-ran.

Bei ihren Verwandten wird sie freudig eingeladen, für ein paar Tage dort zu bleiben und sie liebt es, mit Ausnahme dieser komischen Aussagen des Verwandten: er spricht schlecht von ihrem Land, vom besten Land der Welt. Er erzählt, dass die Nordkoreaner*innen alle von der Propaganda verführt seien und nicht die Yankees oder Südkorea den Koreakrieg ausgelöst hätten. Doch sie stört sich nicht weiter daran und tut es als Spinnerei ab.

1910 nahm Japan Korea für sich ein, doch als Japan Ende des Zweiten Weltkriegs kapitulierte, wurde Korea zwar unabhängig, aber in zwei Besatzungszonen geteilt. Der Norden wurde zur sowjetischen Besatzungszone, der Süden zur US-amerikanischen. 1948 spaltete sich das Land und wurde zur Demokratischen Volksrepublik Korea (Nordkorea) und zur Republik Korea (Südkorea). Doch dann begann Nordkorea gewaltsam Südkorea zu „erobern“ und so wurde daraus 1950 der Koreakrieg. Nordkorea wurde von China und der Sowjetunion unterstützt, Südkorea von den USA und der UNO. Dieser Krieg forderte ca. 4,5 Millionen Leben. Obwohl es 1953 zu einem Waffenstillstand kam, blieben die Grenzen bestehen und auch die verschiedenen politischen Einstellungen änderten sich nicht. Während Nordkorea eine Diktatur ist, hat sich Südkorea zu einer Demokratie entwickelt.

Sie entscheidet sich, länger zu bleiben als geplant. Doch ein paar Tage vor ihrer Abreise erhält sie einen Anruf ihrer Mutter. Sie ist völlig aufgelöst und erklärt Mi-ran, dass sie nicht zurückkehren könne, weil sie vom Staat gesucht würde. Es stünden „Wahlen“ bevor und alle Bürger, die bald im wahlfähigen Alter sein würden, wurden aufgesucht. Mi-ran war jedoch nicht da und ihre Mutter dachte sich eine Ausrede aus, die jedoch nicht sicher genug war, als dass sie zurückkehren könnte. Und so bleibt sie in China. Ihre Verwandten merken, dass Mi-ran traurig ist, und weil eine Rückkehr nach Nordkorea nun sowieso ausgeschlossen ist und sie ihre Mutter und ihren Bruder womöglich nie wieder sehen wird, beschließen sie hinter ihrem Rücken eine neue Familie für sie zu finden. Sie soll schon bald Guen-soo heiraten. Seine Mutter besorgt Mi-ran einen Ausweis und gibt ihr so ihren vierten Namen: Jang Soon-hyang. Doch Soon-hyang fühlt sich (ironischerweise erst jetzt) gefangen und flieht von ihren Verwandten mit ihrem letzten Taschengeld. Sie fährt nach Xita, ein Ort, in dem es viele Koreaner*innen gibt und sucht nach Arbeit. Nachdem sie sich versehentlich einen Tag lang prostituiert hat, findet sie einen Job als Kellnerin in einem koreanischen Restaurant. Nach und nach lebt sie sich dort ein und erzählt einer Kollegin versehentlich von ihrer wahren Identität. Wenig später wird sie auf die Polizeiwache mitgenommen und verschiedenen Tests unterzogen. Ihr jahrelanger Chinesisch-Unterricht macht sich bezahlt und sie lässt die Beamt*innen im Glauben, dass sie Chinesin ist.

Von diesem Moment an ist ihr klar, dass China niemals ein sicherer Ort für sie sein wird und sie beschließt, nach Südkorea zu gehen. Doch bis dort ist es noch ein weiter Weg. Mittlerweile ist sie bereits 22 Jahre alt und hatte in der Zwischenzeit kurzen Kontakt zu ihrem Bruder. Sie zieht nach Schanghai in der Hoffnung, einen richtigen Job zu bekommen. Weil sie ihre Vergangenheit hinter sich lassen will, ändert sie ihren Namen in Chae In-hee, ihr fünfter Name. Doch um sicher zu sein, braucht sie endlich einen echten Ausweis und kauft die Identität einer psychisch kranken Halbkoreanerin und somit ist ihr sechster Name geboren: Park Sun-ja.

In Schanghai lernt sie ihren ersten Freund kennen, Kim. Als sie ihm ihre wahre Identität offenbart, schmieden sie zusammen einen Plan, wie Sun-ja nach Südkorea gehen kann. Und er geht auf. Nach mehreren Komplikationen kann sie endlich Asyl beantragen. Es ist nun bereits 2008.

Zài jiàn China, Annyeonghaseyo Südkorea

Um ihr altes Leben nun völlig hinter sich zu lassen, beantragt sie nun zum ersten Mal offiziell einen neuen Namen: Lee Hyeon-seo. Es ist bis heute ihr siebter und letzter Name.

Über verrückte Umwege (Laos), einen Haufen Geld und einen sehr sehr großzügigen Mann schafft sie es schlussendlich auch ihren Bruder und ihre Mutter über die Grenze zu schmuggeln.

Rot: Fluchtroute von Lee Hyeon-seo; Gelb: Fluchtroute ihres Bruders und ihrer Mutter

Später lernt sie Brian kennen, ihren heutigen Ehemann, und zieht mit ihm, ihrer Mutter und ihrem Bruder nach Chicago, USA.

Heute ist sie für ihren Aktivismus berühmt und gibt TEDx Talks, unzählige Interviews, hat Gastauftritte in Podcasts und hält Reden über ihre außergewöhnliche Geschichte.

2016 schreibt sie ein Buch mit dem Titel „Schwarze Magnolie – Wie ich aus Nordkorea entkam“. Dieses Buch habe ich im Übrigen auch für diese Recherche gelesen und erzähle hier ihre Geschichte in der Kurzfassung.

Glücklicher Einzelfall?

In den Jahren 2010-2020 haben die südkoreanischen Behörden 135 Flüchtlinge gemeldet. Das sind jedoch nur die Menschen, die es nach Südkorea schaffen. Die bittere Wahrheit ist, dass die Dunkelziffer viel höher ist, da diese Menschen illegal in China leben oder von der bowibu zurück nach Nordkorea geholt werden und dort unter unmenschlichen Verhältnissen weggesperrt oder gar hingerichtet werden.

Die häufigsten Fluchtrouten laufen in die Mongolei, nach Burma, Thailand, Laos, Kambodscha oder eben China, jedoch niemals auf direktem Weg nach Südkorea, denn obwohl dies der kürzeste Weg ist, ist die Nord-Südkoreanische Grenze strengstens bewacht.

Erschreckend ist, dass die allermeisten Nordkoreaner*innen nicht wegen der Unterdrückung und den zahlreichen Menschenrechtsverletzungen fliehen, sondern wegen Geldnot, Hunger oder weil sie auf der Suche nach Arbeit sind. Erst hinterher erkennen sie, was für ein Land sie einst für das beste der Welt gehalten haben.

Am frustrierenden ist, dass man als Einzelperson keine Möglichkeit hat, den Nord-koreaner*innen zu helfen. Lee Hyeon-seo glaubt, dass es keinen Wandel des Landes geben wird, solang Kim Jong-un an der Macht ist. Ein Licht am Ende des Tunnels – wenn auch ein kleines – ist, dass die Nordkoreaner*innen langsam mitbekommen, was außerhalb ihres Landes vor sich geht. Lees Angst ist, dass die Außenwelt Nordkorea vergisst, denn die Menschen dort haben keine Möglichkeit, sich bemerkbar zu machen. Die einzige Stimme, die sie haben, sind die Geflüchteten, die nun von ihrem Leben in der Propagandahölle erzählen.

Informiert euch. Sprecht über die Situation Nordkoreas. Lasst uns die Nordkoreaner*innen nicht vergessen.

1in vielen asiatischen Ländern wird zuerst der Nachname und dann der Vorname genannt, diese Schreibweise behalte ich bei. In westlicher Schreibweise würde sie Hyeon-seo Lee heißen.

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Avatar Vanessa Klingele

Author: Vanessa Klingele